Wie Firmen in Bangladesch Mitarbeiter*innen nach Arbeitsunfällen unterstützen
Der exportorientierte Bekleidungssektor ist der größte Arbeitgeber in Bangladesch, Foto: GIZ/Noor Alam
Mit Unterstützung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit haben in den letzten zwei Jahren viele Bekleidungsfabriken in Bangladesch freiwillig Rehabilitations- und Wiedereingliederungsmaßnahmen für Opfer von Arbeitsunfällen eingeführt. Die Firmen reduzieren damit nicht nur krankheitsbedingte Ausfälle, sie erhöhen auch ihre Attraktivität für Kund*innen aus dem Ausland.
Matin Spinning Mills isteine der größten und modernsten Textilfabriken in Bangladesch. Der 12. Januar 2020 war für den 19-jährigen Mitarbeiter Nur Alam zunächst ein Arbeitstag wie jeder andere. Bis er an einer der riesigen Spinnmaschinen eine Spule wechseln wollte, ausrutschte und hinfiel. Nurs Hand blieb in der Maschine stecken und wurde am Handgelenk fast vollkommen abgetrennt. Die riesige Maschine musste gestoppt werden und Nur wurde mit dem Krankenwagen des Unternehmens ins Krankenhaus gebracht. Auf der Fahrt dorthin ging ihm trotz der schweren Verletzung nur eines durch den Kopf: Ob er je wieder arbeiten könne und, falls nicht, wie seine Eltern und sein jüngerer Bruder ohne sein Einkommen über die Runden kommen sollten.

Die Datenlage zu Arbeitsunfall-bedingten Ausfallzeiten und Kosten ist lückenhaft
Obwohl sich die Zahl der Arbeitsunfälle im Bekleidungssektor seit den schrecklichen Katastrophen von 2012 und 2013 deutlich verringert zu haben scheint, ist die Datenlage hinsichtlich berufsbedingter Unfälle und Erkrankungen in Bangladesch laut einer im Auftrag der deutschen Entwicklungszusammenarbeit erstellten Studie weiter lückenhaft. Neben Stürzen wie dem, der für Nur Alam so verheerende Folgen hatte, treten Verletzungen häufig durch Nadelstiche, Chemikalien oder herabstürzende Gegenstände auf. Außerdem leiden Mitarbeiter*innen oft an berufsbedingten Muskel-Skelett- und Atemwegserkrankungen, die langfristige Einschränkungen nach sich ziehen können. Daten zu Kosten, die den Firmen durch die daraus folgenden Arbeitsausfälle entstehen, sind bisher nicht systematisch erhoben worden. Einer kürzlich veröffentlichten Studie des ‚Zentrums für Behinderungen in der Entwicklung‘ in Bangladesch zufolge sind Arbeitnehmer*innen in Bangladesch nach einer schwereren Verletzung durchschnittlich 22 Tage lang arbeitsunfähig – in Nur’s Fall war es sogar fast ein Jahr.
Arbeitgeber*innen in Bangladesch sind zwar gesetzlich verpflichtet, die Kosten für die medizinische Behandlung von Arbeitsunfall-Folgen und für Entschädigungen zu tragen, es gibt jedoch keine Regelung zur Finanzierung von Reha-Maßnahmen und auch keinen Kündigungsschutz für Arbeitnehmer*innen, die aufgrund von Arbeitsunfällen länger ausfallen. Ein Vorhaben der deutschen Entwicklungszusammenarbeit setzte daher auf betriebswirtschaftliche Argumente und überzeugte damit zahlreiche Unternehmen, freiwillig in Rehabilitations- und Wiedereingliederungsmaßnahmen für von Arbeitsunfällen betroffene Arbeitnehmer*innen zu investieren.
Von der Unfall-Prävention hin zur Rehabilitation betroffener Mitarbeiter*innen
Das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) beauftragte Kooperationsprojekt ‚Unfallversicherung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Textil- und Ledersektor’ wird von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Zusammenarbeit mit Bangladesch‘ Ministerium für Arbeit und Beschäftigung umgesetzt, um die soziale Sicherung von Arbeitnehmer*innen der Textil- und Lederbranche zu verbessern. Es baut auf das langjährige deutsche Engagement im Bereich von Arbeitssicherheit u.a. in den Werften von Bangladesch auf (siehe diese Fallstudie der German Health Practice Collection für eine ausführliche Darstellung dieses Vorhabens auf Englisch).
„Wir haben bereits im Bereich der Arbeitsunfallprävention zusammengearbeitet, aber der Bereich der Rehabilitation ist neu“, erklärt Syed Moazzem Hussain, der leitende technische Berater der GIZ für das Projekt. Die Regierung Bangladeschs ist sich einig, dass eine zukünftige soziale Absicherung von Arbeitsunfällen auf dem ILO-Übereinkommen 121 basieren sollte, das Prävention und Rehabilitation sowie finanzielle Entschädigung für arbeitsbedingte Verletzungen vorsieht. Bislang halten sich die Unternehmen bei Präventivmaßnahmen an internationale Standards für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz. Für Rehabilitationsmaßnahmen zur Rückkehr an den Arbeitsplatz gibt es jedoch bisher noch keine entsprechenden internationalen Standards. Daher prüfte das deutsche Vorhaben, so Moazzem, ob Fabriken sich aufgrund betriebswirtschaftlicher Überlegungen bereiterklären würden, Rehabilitations- und Wiedereingliederungsklauseln in ihre Personalpolitik aufzunehmen.

Die positive Resonanz internationaler Kund*innen gab den Ausschlag
Zunächst waren die Bemühungen, Fabriken für die neuen Maßnahmen zu gewinnen, begrenzt erfolgreich – nur etwa 15 Fabriken waren dazu bereit. Als jedoch das internationale Unternehmen Marks & Spencer (M&S) deutliches Interesse bekundete, mit Firmen zu arbeiten, die Reha- und Wiedereingliederungsmaßnahmen umsetzen, nahm die Initiative an Fahrt auf und 60 weitere Fabriken stiegen mit ein. M&S ist wie andere europäische Unternehmen verpflichtet, dafür zu sorgen, dass ihre Zuliefer-Firmen angemessene Arbeitsbedingungen schaffen und hatte bereits nach Möglichkeiten gesucht, die Rehabilitation und Wiedereingliederung verletzter Arbeitnehmer*innen zu verbessern. Im November 2019 lud M&S alle Zulieferbetriebe in Bangladesch zu einem Treffen ein, bei dem das Vorhaben sein Konzept zur Rehabilitation und Rückkehr an den Arbeitsplatz präsentierte. 109 Textilhersteller und zwei Lederproduzenten konnten auf diese Weise für die Zusammenarbeit gewonnen werden. „Solange es keine gesetzlichen Vorschriften gibt, ist es sehr schwierig, Fabriken zu freiwilligen Maßnahmen zu bewegen. Aber wenn das Thema potenzielle Kund*innen wichtig ist, nehmen sie es auch ernst.“, sagt Moazzem.
‚Return to work‘-Schulungen setzen Impulse
Jeweils zwei Angestellte aus allen beteiligten Fabriken nahmen an zweitägigen Schulungen zum Thema „Return to work“ (RTW) teil. Anschließend führten sechs lokale Institute, darunter das Bangladesh Business and Disability Network, das Centre for the Rehabilitation of the Paralysed und das Centre for Disability in Development, weitere Schulungseinheiten durch. Die Betriebe wurden dabei unterstützt, schrittweise strukturierte RTW-Maßnahmen für Ihre Mitarbeiter*innen zu etablieren.
Dazu gehört auch die Ernennung von zwei RTW-Koordinator*innen pro Unternehmen, die anhand entsprechender Ausweise und Warnwesten von allen Mitarbeiter*innen leicht zu erkennen sind. Als Schnittstelle zwischen der Belegschaft und den Arbeitgeber*innen sind sie dafür verantwortlich, sicherzustellen, dass nach einem Unfall so schnell wie möglich eine angemessene medizinische und dann auch eine rehabilitative Versorgung bereitgestellt wird. Außerdem melden sie Unfälle dem Arbeitsschutzpersonal, deren Aufgabe es ist, zu prüfen, wie ähnliche Vorfälle in Zukunft vermieden werden können. Jede Fabrik wurde darüber hinaus ermutigt, einen medizinischen Ausschuss einzurichten, Überweisungsverfahren festzulegen, ein Netzwerk an Rehabilitationsdiensten zu etablieren und sicherzustellen, dass all diese RTW-Regelungen fest in die bestehenden Personalrichtlinien aufgenommen werden.
Viele der beteiligten Fabriken stellten schnell fest, dass ihr verbesserter Umgang mit Arbeitsunfällen zu kürzeren Ausfallzeiten führt und sich dies direkt positiv auf ihre Bilanz auswirkt. Sie erkannten auch, dass sich ihre Wettbewerbsfähigkeit internationalen Kund*innen gegenüber durch das Einführen der RTW-Maßnahmen verbesserte.
Obwohl die Schulungen durch die COVID-19-Pandemie und Lockdown-bedingten Fabrikschließungen im April 2020 unterbrochen wurden, haben 83 der 111 beteiligten Fabriken RTW-Koordinator*innen benannt und ausgebildet und RTW-Regelungen in ihre bestehenden Personalrichtlinien aufgenommen. So auch die Matin Spinning Mills, das Unternehmen, in dem Nur Alam seinen Unfall hatte.
Die Perspektive der RTW-Koordinator*innen
Rafiquel Alam ist der Nachhaltigkeitsmanager der Matin Spinning Mills und nun auch ihr RTW-Koordinator. Die Fabrik ist Teil der DBL-Gruppe, die rund 39.000 Menschen in Bangladesch beschäftigt. Obwohl die Fabrik bereits ein Unfallschutzprogramm hatte, empfand er die RTW-Schulung als „ausgezeichnet“ und ausgesprochen lehrreich. Aus seiner Sicht ist das Unternehmen mit dem neu eingerichteten medizinischen Ausschuss und seinem Paket an Rehabilitations- und Wiedereingliederungsmaßnahmen deutlich besser aufgestellt als vorher, auch weil die Unternehmensführung und RTW-Koordinator*innen dafür sorgen, dass sie konsequent umgesetzt werden. „Unsere Mitarbeiter*innen sind unser Kapital. Wir glauben fest an die Menschenrechte in der Wirtschaft und nicht nur an den Profit. Wenn die Belegschaft merkt, dass wir uns um sie kümmern, sind sie zufriedener und produktiver und wir können qualifizierte Arbeitskräfte langfristiger an uns binden.“

Neue Hoffnung für Nur Alam
Nach seinem Unfall verbrachte Nur Alam drei Monate in einer Spezialklinik. Obwohl das medizinische Personal anfangs daran zweifelte, dass sie seine Hand retten könnten, bestand das Management der Matin Spinning Mills darauf, es zu versuchen. Und nach mehreren Operationen konnten ein Erfolg vermeldet werden. Das Unternehmen kam für alle medizinischen Kosten auf und bezahlte Nur Krankengeld. Um den Einkommensverlust auszugleichen, sorgte der RTW-Koordinator außerdem dafür, dass seiner Mutter, Lufta Begum, eine Stelle in der Verwaltung angeboten wurde. „Nach dem Unfall meines Sohnes fühlte ich mich sehr hilflos“, sagt sie. „Aber da die Fabrik sich um die Behandlungskosten und die gesamte finanzielle Seite kümmerte, mussten wir uns um nichts anderes sorgen als um die Genesung von Nur.“
Nur selbst kehrte schließlich am 17. Dezember 2020, elf Monate nach seinem Unfall, an seinen Arbeitsplatz zurück. Er hat nun eine neue Aufgabe und weist andere Angestellte in die Bedienung der Maschinen ein. Er sagt, er sei dem RTW-Koordinator, Rafiqul Alam, Herrn Md. Shamimul Haque, dem Produktionsleiter und Herrn Md. Golam Kibria, dem stellvertretenden Generaldirektor der Verwaltung, für die Finanzierung seiner Behandlung, Rehabilitation und Wiedereingliederung sehr dankbar.

Das nächste Ziel ist die gesetzliche Verankerung der Maßnahmen
Obwohl das Kooperationsvorhaben im Dezember 2021 auslief, setzen die beteiligten Firmen, die die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise überstanden, ihre Rehabilitations- und Wiedereingliederungs-Maßnahmen fort. Moazzem Hussain von der GIZ, hofft, dass dies so bleibt. Dass einige der Fabriken bereits RTW-Auffrischungsschulungen durchgeführt haben, ermutigt ihn.
In einem nächsten Schritt geht es jetzt darum, die Maßnahmen auch gesetzlich zu verankern. Kurz vor Ende der Projektlaufzeit fand hierzu ein Austausch zwischen der Regierung und den Arbeitgeber*innen- und Arbeitnehmer*innenverbänden statt, bei dem Vorschläge für entsprechende Ergänzungen des Arbeitsgesetzes in Bangladesch erarbeitet wurden.
Ein neues Vorhaben mit dem Ziel, eine Arbeitsunfallversicherung für Angestellte in der Bekleidungsindustrie in Bangladesch einzuführen, startete vor Kurzem. Die GIZ setzt es gemeinsam mit der ILO um und es wird von internationalen Firmen ko-finanziert. Es fokussiert zunächst auf eine Gruppe von 150.000 Arbeitnehmer*innen, um bei ihnen die dringend benötigten Daten über das Ausmaß von Arbeitsunfällen sowie über die die Wirksamkeit von Rehabilitations- und Wiedereingliederungs-Maßnahmen zu erheben. Auf dieser Grundlage soll dann eine Arbeitsunfallversicherung etabliert werden, die garantiert, dass alle fünf Millionen Arbeitnehmer*innen der exportorientierten Bekleidungsindustrie im Todesfall oder bei dauerhafter Invalidität aufgrund von Arbeitsunfällen Anspruch auf Zahlungen gemäß des ILO-Übereinkommens 121 haben.
Nur Alam und seine Familie haben aus erster Hand erfahren, welch hohen Wert gut umgesetzte Rehabilitations- und Wiedereingliederungsmaßnahmen für Unternehmen und ihre Mitarbeiter*innen haben.
Ruth Evans, Februar 2022