‚Unsichtbare Krankheiten’ von ‚unsichtbaren Menschen’ beenden: Deutschlands Beitrag im Kampf gegen vernachlässigte Tropenkrankheiten
Patient*innen mit lymphatischer Filariose in Tansania warten in einem Gesundheitszentrum in Dar es Salaam, Tansania ©DNTDs/g+h communication
Nahezu ein Viertel der Menschheit leidet unter 20 stark behindernden Tropenkrankheiten, obwohl es vergleichsweise einfach wäre, sie auszumerzen. Deutschland ist ein wichtiger Akteur in einer neuen weltweiten Bemühung, die vernachlässigten Tropenkrankheiten sichtbar zu machen und ihre katastrophalen Folgen zu überwinden.
Unter einem langen Taftrock und flauschigen roten Hausschuhen versteckt die schüchterne junge Frau ihren entstellten Unterschenkel, während sie im Gesundheitszentrum geduldig in der Schlange wartet, dass sie an der Reihe ist. Lymphatische Filariose, auch bekannt als Elefantiasis, ist eine schmerzhafte, übelriechende und deformierende Krankheit, von der über 50 Millionen Menschen in tropischen Ländern betroffen sind. Sie wird durch einen Parasiten verursacht, der durch Mückenstiche übertragen wird und in das Lymphsystem eindringt. Vor allem ist es eine Krankheit der ‚Unsichtbaren‘, denen die Mittel und das Wissen, sich vor Infektion zu schützen, fehlen, und die zu arm sind, um ein Thema auf die politische Agenda zu bringen. Die lymphatische Filariose ist eine von 20 vernachlässigten Tropenkrankheiten (Neglected Tropical Diseases – NTDs), von denen nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) etwa 1,7 Milliarden Menschen betroffen sind – fast ein Viertel der Menschheit. Zu den NTDs gehören so unterschiedliche Krankheiten wie Bilharziose, Onchozerkose (Flussblindheit), Lepra, Trachom, Schlafkrankheit und Tollwut. Die NTDs, die manchmal tödlich verlaufen, oft zu Behinderungen führen und immer stigmatisierend sind, stellen eine enorme Belastung für körperliches und geistiges Wohlbefinden dar, erschweren den Schulbesuch betroffener Kinder und junger Menschen und wirken sich auf diese Weise negativ auf den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt von Regionen und Ländern aus, in denen viele Menschen von ihnen betroffen sind.
Wie bei vielen NTDs ist es auch bei der lymphatischen Filariose so, dass es einfacher ist, ihr vorzubeugen, als sie zu heilen. Eine massenhafte Verabreichung von Medikamenten in endemischen Regionen kann die Übertragung des Filariose-Parasiten unterbrechen und das Fortschreiten der Krankheit bei den bereits Betroffenen aufhalten. Die körperliche Deformierung lässt sich jedoch nicht rückgängig machen, Menschen müssen so gut wie möglich mit ihr weiterleben, z.B. indem sie sie sauber halten und Stützstrümpfe tragen, soweit dies möglich ist.
Die ‚Beendigung der Epidemien… vernachlässigter Tropenkrankheiten‘ bis 2030 ist das Unterziel 3.3 der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) und das Ziel des WHO-Fahrplans 2021-2030 für NTDs.
Deutschland fokussiert auf NTDs
Nach zwei Jahren COVID-Pandemie hat sich die neue Bundesregierung entschlossen, dem Thema Gesundheit auch in der Entwicklungszusammenarbeit wieder einen höheren Stellenwert beizumessen. Dazu gehört ein verstärkter Einsatz gegen die NTDs. Im Januar unterzeichnete Deutschland als erstes westliches Land nach Ruanda, Nigeria und Tansania die gerade publizierte Kigali-Erklärung, in der sich Regierungen und wichtige Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft, multilateralen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen verpflichten, den Fahrplan der WHO zur Bekämpfung von NTDs bis 2030 umzusetzen.
Am 31. März veranstaltet die Sektorinitiative One Health der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) zusammen mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) ein Treffen von NTD-Schlüsselakteuren und -Praktikern aus der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, um das neue Begleitdokument zum Fahrplan der WHO vorzustellen. Dabei soll gemeinsam überlegt werden, wie der ganzheitliche Ansatz des WHO-Begleitdokuments in Deutschlands laufende Entwicklungszusammenarbeit in vielen Partnerländern integriert werden kann.
Dynamische Praxisgemeinschaft
Das Deutsche Netzwerk gegen vernachlässigte Tropenkrankheiten (D-NTDs) ist eine sehr aktive Community of Practice, die 2014 unter der internationalen Dachorganisation Uniting to Combat NTDs (UCN) gegründet wurde und hochrangige Spezialist*innen von deutschen Universitäten und Forschungsinstituten, der pharmazeutischen Industrie und der Zivilgesellschaft, einschließlich internationaler Hilfsorganisationen wie der Christoffel Blindenmission (CBM), zusammenbringt. Durch seine Veröffentlichungen, seine ‚Kamingespräche‘ am Welt-NTD-Tag (28. Januar) und seine Kontakte zu Parlament und Regierung trägt das Netzwerk dazu bei, dass die NTD-Problematik im politischen Raum nicht in Vergessenheit gerät.
Ein Runder Tisch für europäische Partner, die sich gegen die NTDs einsetzen
Auf Anfrage von Uniting to Combat NTDs wird das BMZ am 26. April einen europäischen Geber-Rundtisch zu den vernachlässigten Tropenkrankheiten zur Kigali-Erklärung organisieren, um die Planung und Koordinierung der Beiträge der verschiedenen europäischen Regierungen zur Umsetzung des NTD-Fahrplans zu verstärken, einschließlich der Berücksichtigung des One Health-Ansatzes. Deutschland wird auch seine derzeitige G7-Präsidentschaft im Jahr 2022 nutzen, um das gemeinsame Engagement für die Bekämfpung der NTDs voranzutreiben. Ein Treffen der G7-Gesundheits- und -Entwicklungsminister zum Thema globale Gesundheit im Mai wird sich auf die weltweiten Impfbemühungen gegen COVID-19 konzentrieren, aber auch die Entwicklung neuer Impfstoffe gegen andere Infektionskrankheiten, einschließlich NTDs, ansprechen.
Onchozerkose-Patientin Hauwa in Nigeria. Flussblindheit wird durch den Biss von in schnellfließenden Gewässern brütenden Kriebelmücken übertragen
Foto: ©CBM
COVID hat allen bewusst gemacht, was es bedeutet, aufgrund von Krankheit stigmatisiert zu werden
Dr. Daniel Eibach vom BMZ-Referat One Health sagt: ‚Die COVID-Pandemie war ein Weckruf für uns reiche westliche Nationen: Die plötzliche Konfrontation mit einer verheerenden, stigmatisierenden Krankheit hat uns erschüttert – aber genau damit leben die Menschen in Partnerländern, die von NTDs betroffen sind, tagtäglich.‘
Einerseits hat die COVID-Pandemie die Vernachlässigung der NTDs verschärft und diesen weitgehend unsichtbaren Krankheiten Aufmerksamkeit und Finanzmittel entzogen, andererseits hat die Notwendigkeit, gemeinsam gegen die weltweite Herausforderung COVID vorzugehen, auch neue Möglichkeiten für die globale und sektorübergreifende Zusammenarbeit geschaffen (siehe WHO 2021). Der Mangel an medizinischer Behandlung für COVID-Patient*innen beförderte einen weltweiten Perspektivwechsel hin zu Präventivmaßnahmen als einzigem Ausweg aus der Pandemie.
COVID ist wie die meisten NTDs eine Zoonose, also eine Krankheit, die von Tieren auf Menschen übertragen wird. Die COVID-Pandemie hat zu einer neuen, ganzheitlichen Sichtweise der menschlichen Gesundheit als untrennbar von der Gesundheit von Tieren und vom Ökosystem geführt. Diese ‚One Health‘-Perspektive ist auch in das neue Begleitdokument der WHO zu ihrem Fahrplan 2021-30 eingeflossen und ist in der One Health-Strategie 2021 des BMZ verankert.
One Health: das neue Paradigma zur Bekämpfung der NTDs
In den Berlin Principles on One Health von 2019 wird anerkannt, dass die Gesundheit und das Wohlergehen von Menschen, Tieren, Pflanzen und der Umwelt untrennbar miteinander verbunden sind und durch menschliche Aktivitäten tiefgreifend beeinflusst werden. Dies gilt insbesondere für die NTDs, von denen die meisten durch Parasiten, Bakterien und Viren verursacht werden, die sich unter schlechten hygienischen Bedingungen und bei Mangel an sauberem Wasser vermehren, und wo Menschen und Tiere in enger Nachbarschaft leben. Der One Health-Ansatz sieht daher integrierte, sich ergänzende Maßnahmen von Akteuren aus unterschiedlichen Sektoren vor, insbesondere für eine erhöhte Effizienz von Präventionsmaßnahmen, z.B. in den Bereichen Wasser, Sanitärversorgung und Hygiene (WASH) oder – wie in einem GIZ-Projekt in Kamerun – die Beauftragung eines Tierarztes, der nicht nur Hunde (gegen Tollwut), sondern auch Hühner, Schafe und Ziegen gleichzeitig impft. Darüber hinaus umfasst ein solcher Ansatz gerade für Menschen in abgelegenen Gebieten Aufklärung über NTD-Risiken und -Ursachen, um sie in die Lage zu versetzen, sich selbst zu schützen.
Der One Health-Ansatz bedeutet nach Dr. Eibach auch, aktiv nach Synergien mit bestehenden Programmen zu suchen (z.B. mit bereits vorhandenen Gemeindehelfern zu arbeiten, anstatt neue auszuwählen und auszubilden) sowie das Schließen von Lücken in den Bekämpfungsmaßnahmen – beispielsweise in der Forschung oder bei der Verfügbarkeit von Impfstoffen. Dies bedeutet auch, ineffiziente vertikale Programme, die isoliert auf eine einzelne NTD abzielen, aufzugeben. Stattdessen könnten NTDs (z.B. Hautkrankheiten) mit gemeinsamen Merkmalen, die sie für einen ähnlichen Ansatz eignen, gemeinsam bekämpft werden.
Mit ESPEN unterwegs
Im Dezember 2021 unterzeichnete das Globalprogramm ‚Pandemieprävention und -bekämpfung, One Health‘ der GIZ eine Finanzierungsvereinbarung zur Unterstützung des Expanded Special Project for Elimination of Neglected Tropical Diseases (ESPEN) der WHO bei der Integration des One Health-Ansatzes in seine Arbeit. Das im WHO-Regionalbüro für Afrika in Brazzaville angesiedelte ESPEN konzentriert sich auf die fünf häufigsten NTDs (lymphatische Filariose, Onchozerkose, Bilharziose, bodenübertragene Helminthiosen und Trachom), die zusammen 90% der dokumentierten NTD-Krankheitslast in Afrika ausmachen. Diesen fünf Krankheiten ist gemeinsam, dass sie durch die massenhafte Verabreichung von Medikamenten in den gefährdeten Gemeinden wirksam verhindert werden können. Darüber hinaus können andere präventive, kostengünstige Maßnahmen dazu beitragen, Infektionen beim Menschen zu vermeiden, z.B. verbesserte WASH-Maßnahmen, lokale Tiergesundheitsdienste – vor allem Impfungen und Entwurmungen für Vieh oder Hunde – oder Gesundheitsaufklärung. Wie wichtig One Health – die übergreifende Betrachtung der Gesundheit von Mensch und Tier– ist, zeigt sich an der Herausforderung nationaler NTD-Programme, die Massenverabreichung von Medikamenten gegen Bilharziose zu organisieren und dabei die schweren Nebenwirkungen dieses Medikaments bei Menschen zu vermeiden, die Träger*innen der von Schweinen übertragenen Larven des Schweinebandwurms sind.
Eine weitere große Herausforderung bei der Bekämpfung der NTDs ist ihre Dunkelziffer: So wird beispielsweise geschätzt, dass weniger als 1 % der Fälle von Tollwut überhaupt gemeldet werden. Das bedeutet, dass nicht gemeldete NTDs einen noch größeren Anteil an der Gesamtbelastung durch übertragbare Krankheiten haben könnten, als uns bewusst ist.
Die Eigenverantwortung der Länder für das Programm ist entscheidend
Über das Netz der WHO-Länderbüros werden nationale Regierungen bei der Überwachung von NTDs und bei der massenhaften Verabreichung von Medikamenten zu ihrer Ausrottung unterstützt. Die WHO unterstützt außerdem Schulungen für das Gesundheitspersonal, einschließlich gemeindebasierter Gesundheitshelfer‘innen und Tiergesundheitshelfer*innen, und Sensibilisierungsmaßnahmen, die sich an die breite Bevölkerung richten.
Die ESPEN-Gesundheitsexpert*innen Dr. Amir Kello und Dr. Pauline Mwinzi koordinieren den Kampf gegen diese fünf NTDs an vielen verschiedenen Fronten: die epidemiologische Forschung und die Kartierung des Auftretens von NTDs, um das Profil jedes Landes zu erstellen; die Beratung der nationalen Gesundheitsministerien, auch in Bezug auf umwelt- und sektorübergreifende Maßnahmen, die Vermeidung potenzieller Wechselwirkungen zwischen Medikamenten, die Unterstützung von Laboren und Verteilerketten sowie die Schulungen für gemeindebasierte Medikamentenverteiler*innen sowie die kontinuierliche Aktualisierung der Gesundheitsstatistiken und Verfolgung der Fortschritte der einzelnen Länder auf dem Weg zur Ausrottung ‚ihrer‘ NTDs. Dabei können sie erste Erfolge verzeichnen: Seit 2010 und dem ersten NTD-Fahrplan der WHO haben weltweit 42 Länder, Gebiete und Regionen schon mindestens eine NTD ausgemerzt.
‚Entscheidend ist,‘ so Pauline Mwinzi, ‚dass die Länder das Programm selbst in die Hand nehmen – und dass sie dabei das Gesundheitssystem als Ganzes stärken. In vielen Ländern sehen die Eliten das Problem nicht, weil die Armen für sie unsichtbar sind. So werden die Bedürfnisse armer, isolierter und abgelegener Menschen, einschließlich der NTDs, die sie plagen, vom bestehenden Gesundheitssystem und anderen staatlichen Diensten nicht einmal wahrgenommen. Das muss sich dringend ändern: Die NTDs müssen sichtbar werden, und ihre Behandlung und Prävention müssen in die medizinische Grundversorgung integriert werden.‘
Deutschland unterstützt einen ganzheitlichen Ansatz zur Bekämpfung der NTDs
Dr. Eibach fasst zusammen: ‚Wir verfolgen bei der NTD-Bekämpfung einen systemischen und ganzheitlichen Ansatz, der nicht auf die Bekämpfung einzelner Krankheiten, sondern auf die Stärkung der Gesundheitssysteme als Ganze abzielt. Die Bekämpfung von NTDs ist Teil unserer One Health-Strategie, in der wir der Prävention und den Synergien zwischen verschiedenen Sektoren wie WASH, Landwirtschaft und Veterinärmedizin Priorität einräumen.‘
‚Das Wichtigste ist, dass NTDs wegen der Konzentration auf COVID-19 nicht wieder vernachlässigt werden. In der Tat könnten wir viele dieser Krankheiten recht einfach verhindern, wenn wir als internationale Gemeinschaft gemeinsam Maßnahmen in den am stärksten betroffenen Ländern unterstützen. Krisen sind unser bester Lehrmeister, und mit COVID hat uns die Welt diese Lektion vor Augen geführt! Die Gesundheit hat jetzt wieder oberste Priorität – und die NTDs gehören dazu.‘
Dr Mary White-Kaba
März 2022