Gemeinschaftsgärten und Ernährungswissen stärken in Indien Gesundheit und Einkommen vieler Frauen – und damit auch ihrer Familien.
In den zentralindischen Bundesstaaten Madhya Pradesh und Maharashtra durchbricht ein gender-transformatives Projekt den Kreislauf der Unterernährung, indem es Frauen durch Ernährungsberatung und Beschäftigung in Gemeinschaftsgärten ermöglicht, ihre Kinder, sich selbst und ihre Familien mit nahrhaften, selbst angebauten Lebensmitteln zu versorgen.
„Es ist wichtig, dass wir auf unsere Ernährung und Gesundheit achten“, sagt die 45-jährige Ramvati Adiwashi, während sie den Boden für die Kartoffeln, den Kohl, die Radieschen und den Spinat vorbereitet, die sie im Gemeinschaftsgarten des Dorfes Dalarnakhurd im zentralindischen Bundesstaat Madya Pradesh anbauen will. „Eigenes Gemüse anzubauen ist viel billiger als es auf dem Markt zu kaufen, und außerdem gesünder, weil wir keine Chemikalien verwenden“, sagt sie. Ramvati hat verstanden, dass sie auf diese Weise das Leben ihrer Familie verbessern kann. Und sie hat viele andere in ihrem Dorf ermutigt, es ihr gleich zu tun.
Ein gender-transformativer Ansatz
Ramvati ist nur eine von 424.000 Frauen im gebärfähigen Alter in den Bundesstaaten Madhya Pradesh und Maharashtra, die das deutsch-indische Kooperationsprojekt „Ernährung sichern, Widerstandsfähigkeit stärken“ durch Ernährungsberatung und bezahlte Arbeit in Gemeinschaftsgärten in die Lage versetzt, ihre Kinder und sich selbst richtig zu ernähren. Das Projekt ist Teil der globalen Sonderinitiative ‚Transformation der Agrar- und Ernährungssysteme‚, die vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) beauftragt und von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in 10 Ländern, darunter Indien, umgesetzt wird. Es zeigt, was es bedeutet, von einem geschlechtersensiblen zu einem geschlechtertransformativen Ansatz überzugehen, um die neue feministische Entwicklungspolitik des BMZ in die Praxis umzusetzen:
Wir haben erkannt, dass es nicht ausreicht, nur mit schwangeren oder stillenden Müttern zu arbeiten, um eine echte Wirkung zu erzielen. Wir müssen auch ihre Ehemänner einbeziehen. Die Verantwortung für die Kinderernährung sollte nicht nur bei den Müttern liegen. Unser derzeitiger Ansatz steht ganz im Einklang mit der feministischen Entwicklungspolitik des BMZ: Er stellt vorherrschende Geschlechternormen in Bezug auf Ernährung, Kinderbetreuung und Nahrungsmittelproduktion in Frage und verändert sie.
Susanne Milcher, Projektleiterin, GIZ
Wie unterstützt das Projekt Familien, die bessere Ernährung für ihre Kinder und sich selbst benötigen?
Ernährungswissen, Gemeinschaftsgärten und Beschäftigung greifen ineinander
In ganz Indien sind die Anganwadi-Gemeindearbeiterinnen seit 1975 das Rückgrat des staatlichen Vorzeigeprogramms Integrierte Kinderentwicklungsdienste der Regierung für frühkindliche Betreuung und Entwicklung. In Zusammenarbeit mit den staatlichen Ministerien für Frauen und Kinderentwicklung schult das deutsch-indische Projekt nun 10.000 von ihnen darin, Familien bei der Verbesserung ihrer Ernährung zu unterstützen. Der Durchführungspartner für die Ausbildung der Anganwadi-Gemeindearbeiterinnen ist die deutsche Nichtregierungsorganisation Welthungerhilfe. Laut Pratibha Srivastava, der Landeskoordinatorin der Welthungerhilfe in Madhya Pradesh, zeigt diese Ausbildungsmaßnahme bereits große Wirkung: Die Gemeindearbeiterinnen klären Mütter, Väter und Großmütter in 5000 Dörfern über Hygiene, gesunde Ernährung und Lebensmittelproduktion auf. In jedem Dorf führen sie eine Reihe von 20 Treffen durch, an denen jeweils 20-30 Mütter teilnehmen, einige von ihnen in Begleitung von Vätern oder Großmüttern.
Eine zweite Komponente des deutsch-indischen Projekts ist die Anlage von Gemeinschaftsgärten für die Gemüseproduktion. Dies Vorgehen wurde zunächst mit 20 Frauenselbsthilfegruppen erprobt. Die Ergebnisse waren so ermutigend, dass entsprechende Gärten jetzt in rund 600 Gemeinden in Madhya Pradesh angelegt werden. Die Frauen erwirtschaften mit diesen Gärten nicht nur vielfältigere und nahrhaftere Lebensmittel für ihre Familien, sondern auch ein Einkommen aus dem National Rural Employment Guarantee Scheme der Regierung.
Auf die ersten 1000 Tage kommt es an
Susanne Milcher erklärt, warum es so wichtig ist, dass Mütter und Väter verstehen, wie wichtig eine gute Ernährung in der frühen Kindheit ist:
Wie Kinder in den ersten 1000 Tagen ernährt werden, prägt ihre körperliche und kognitive Entwicklung und ihre Gesundheit für den Rest ihres Lebens. In diesem kritischen Zeitraum darf es weder Müttern und Kindern an essenziellen Mikro- und Makronährstoffen mangeln. Kleinkinder müssen diesem Zeitraum gezielt mit babyfreundlicher Nahrung gefüttert werden und Mütter brauchen eine gute Anleitung beim Übergang vom Stillen zur Beifütterung.
Susanne Milcher, Projektleiterin, GIZ
Die Vermittlung von Wissen über Lebensmittelgruppen und die Ernährungsvielfalt reicht jedoch allein nicht aus. Laut Nadine Bader, einer der Ernährungsberaterinnen des Projekts, ergaben die Fokusgruppendiskussionen mit Müttern, Vätern, Großmüttern und Anganwadi-Gemeindearbeiterinnen viele soziale und kulturelle Faktoren, die gesunde Ernährungspraktiken entweder verhindern oder ermöglichen. Das Projektteam hat diese Faktoren bei der Gestaltung seiner Maßnahmen berücksichtigt (mehr hierzu in dieser Studie).
„Positive Abweichler“ können Vorbilder sein
Ein vielversprechendes Vorgehen ist hierbei die Zusammenarbeit mit Personen, die in ihren Gemeinden als Vorbilder dienen können. In einer Feldstudie wurden so genannte „positive Abweichler“ ermittelt, d. h. Familien mit kleinen Kindern, die besser ernährt und gesünder erscheinen als ihre Altersgenossen. Das Team nahm ihre Hygiene- und Ernährungspraktiken sowie die Familiendynamik genauer unter die Lupe, um herauszufinden, was sie anders und besser machen. Ramvati Adiwashi mit ihrem lokal angebauten Gemüse ist eine solche positive Ausnahme. Das Projekt will mehr Menschen wie sie dazu befähigen, ihr Wissen und ihre Praktiken mit anderen zu teilen:
Die gesunden Lösungen dieser Menschen kommen nicht von außen – sie sind „hausgemacht“ und zeigen den anderen Dorfbewohnern, was möglich ist.
Susanne Milcher, Projektleiterin, GIZ
Pratibha Srivastava erklärt: „Wir ermutigen diese ‚Ausnahme-Frauen‘, mit anderen Müttern über ihre Ernährungsgewohnheiten zu sprechen. Was bereiten sie für ihre Kinder vor und wie oft füttern sie sie? Da sie aus demselben Dorf kommen, sind die anderen Frauen bereit, ihnen zuzuhören und von ihnen zu lernen.“ Jedoch reiche es nicht aus, nur auf Frauen zuzugehen. Auch die Männer müssen Verantwortung übernehmen, da sonst die Arbeitsbelastung der Frauen nur noch zunimmt.
Geschlechternormen werden überdacht, Männer werden einbezogen
In einer Gesellschaft, in der Frauen ohne die Zustimmung ihrer Ehemänner kaum etwas bewegen können, ist es wichtig, zu thematisieren, wer was in Bezug auf die familiäre Ernährung tut. Deshalb führte die Welthungerhilfe hierzu eine Reihe von Dorfversammlungen durch: Männer und Frauen wurden gebeten, eine Liste aller Aufgaben zu erstellen, die sie jeden Tag erledigen. „Die Listen der Frauen waren endlos! Sie putzen, kochen, waschen Wäsche und arbeiten von morgens bis abends auf den Feldern“, sagt Pratibha. Die Listen der Männer waren deutlich kürzer und die meisten ihrer Arbeiten finden außerhalb des familiären Haushalts statt.
Diese einfache Übung setzte einen sozialen Veränderungsprozess in Gang. Ein Beamter des Ministeriums für Frauen und Kinderentwicklung von Madhya Pradesh sieht dies sehr positiv: „Wir können in den Dörfern jetzt endlich über die Gleichstellung der Geschlechter sprechen, es ist kein Tabu mehr. Wir alle wissen, dass wir ohne einen solchen Wandel die Ernährungssituation nicht ändern können.“
Das Projekt bezieht Männer gezielt in Aufklärungsmaßnahmen ein und unterstützt Theateraufführungen, die traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit in Frage stellen und fürsorglichere und unterstützende Ehemänner und Väter als Vorbilder zeigen.
Prakash Michael, ein NRO-Partner in Madhya Pradesh, sieht inzwischen positive Veränderungen: „Viele Männer haben begonnen, ihre Frauen bei der Hausarbeit zu unterstützen. Sie kümmern sich inzwischen auch um ihre kleinen Kinder und füttern sie sogar.“
Die Maßnahmen werden in Indiens soziale Sicherungssysteme integriert
„Uns ist sehr bewusst, dass die Verbesserung der Gesundheits- und Ernährungssicherheit in Indien eine komplexe Aufgabe und ein hochpolitischer Prozess ist“, sagt der stellvertretende Projektleiter Dr. Tapan Kumar Gope. Vielen erfolgreichen Pilotprojekten ist es nicht gelungen, sich nachhaltig zu etablieren. Deshalb hat sich das indisch-deutsche Projekt von Beginn an bemüht, seine Maßnahmen in existierende Sozialprogramme der Regierung zu integrieren. Hierzu gehören die öffentlichen Arbeitsprogramme, die Lebensmittelverteilung und die Beratung durch die Anganwadi-Gemeindearbeiterinnen.
Ich sage meinen Teammitgliedern immer wieder, dass wir unsere Maßnahmen nur als Teil der bestehenden staatlichen Systeme konzipieren und umsetzen können. Das ist zwar manchmal sehr anstrengend, aber im Ergebnis funktioniert es.
Stellvertretender Projektleiter Dr. Tapan Kumar Gope
Die Saat des Wandels geht auf: Ernährungsgärten als soziale Innovationslabore
Der Garten von Ramvati Adiwashi und die größeren gemeinschaftlichen Gärten, die das Projekt unterstützt, produzieren nicht nur Gemüse. Sie sind zu sozialen Innovationslaboren geworden, die Verhaltensänderungen fördern und hinderliche Geschlechternormen in Frage stellen.
Frau bei der Arbeit in einem Gemeinschaftsgarten für Ernährung im Bezirk Chhatarpur, Madhya Pradesh
Das deutsch-indische Projekt ist stolz auf seine bisherigen Ergebnisse und möchte seine Maßnahmen auf noch mehr Menschen und Orte ausdehnen: „Wir haben noch einen weiten Weg vor uns“, sagt Dr. Tapan Gope, „aber wenn dieser Ansatz landesweit verbreitet werden kann, wäre das ein Paradigmenwechsel für die ernährungssensible Landwirtschaft in ganz Indien.“
„Wenn ich heute in die Dörfer gehe, in denen wir arbeiten, sehe ich viele Tomaten und viel frisches Gemüse, das Familien das ganze Jahr über essen können“, sagt Pratibha Srivastava. Jeden Tag kommen ein paar mehr Menschen hinzu, die den Wandel in ihren Dörfern unterstützen.
Ramvati Adiwashi ist begeistert von den positiven Veränderungen, die die Ernährungsgärten in ihrer Gemeinde bewirkt haben. Der einfache Anbau von ein paar Gemüsesorten hat nicht nur für bessere Ernährung gesorgt, sondern auch einen Wandel in den Geschlechterbeziehungen bewirkt, sagt sie. „Ich sehe jetzt viel öfter ein Lächeln auf den Gesichtern der Frauen“.
Ruth Evans und Sharmishtha Basu,
März 2023