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Mini dialogue during hibiscus harvest 3

Generationendialoge in Ägypten: Räume für Gespräche über das Fortbestehen der weiblichen Genitalverstümmelung

Die Jesuit Development Association nutzt die Hibiskusernte für Mini-Dialoge über die Ergebnisse des Generationendialogs.

Wie ein Stein in stehendes Wasser

Hanaa Beshara und ihre Kolleg*innen von der Jesuit Development Association haben in den letzten Jahren unzählige Stunden damit verbracht, mit Menschen im Gouvernement Minya in Oberägypten über die schädlichen Folgen der weiblichen Genitalverstümmelung (FGM) zu sprechen. 

Obwohl die Praxis in Ägypten seit 2008 verboten ist, ist sie nach wie vor weit verbreitet: Schätzungsweise 89 Prozent der Mädchen und Frauen in Minya im Alter zwischen 15 und 49 Jahren wurden ihr unterzogen. Hanaa Beshara weiß, wie schwierig es sein kann, Gemeindemitglieder dafür zu gewinnen, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, und konnte daher kaum glauben, was sich in den Jahren 2020 und 2021 in der Gemeinde Beni Ebied ereignete.

Der Generationendialog war wie ein Stein, den man in ein stehendes Gewässer wirft“, sagt sie: 

Erst haben die Leute sich gewundert, dass es in diesem Dialog keine richtigen oder falschen Antworten gibt. Aber dann begannen sie, offen miteinander zu sprechen und wahre Geschichten aus ihrem Leben zu erzählen. Ich konnte sehen, wie gut es ihnen tat, dies in einem solchen Gesprächskreis zu tun.

Hanaa Beshara

Der Generationendialog kommt nach Ägypten

 Der vor über 20 Jahren in Guinea mit Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) entwickelte Generationendialog ist ein Ansatz, der soziale Veränderungsprozesse dort anstoßen kann, wo traditionelle Glaubensvorstellungen Praktiken wie Genitalverstümmelung aufrechterhalten, die schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlergehen von Gemeindemitgliedern haben. Er schafft Raum für jüngere und ältere Menschen einer Gemeinde, über ihre Überzeugungen und Werte zu sprechen und dabei respektvoll angehört zu werden. Die Dialoge wurden mit Unterstützung der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) im Auftrag des BMZ in mehr als 10 Ländern in Afrika und Asien zu einer Reihe von Themen durchgeführt.

2019 hat der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) mit dem von der GIZ durchgeführten Sektorprogramm „Förderung der Gleichstellung der Geschlechter“ zusammengearbeitet, um den Generationendialog unter der Schirmherrschaft des gemeinsamen Programms von UNFPA und UNICEF zur Beseitigung von Genitalverstümmelung nach Ägypten zu bringen. 

Herkömmliche Strategien zur Bekämpfung von FGM – von der Kriminalisierung und gesetzlichen Bestrafung bis hin zu Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagnen – haben in Ägypten nur zu einem allmählichen Rückgang der Prävalenz unter den jüngeren Generationen geführt. In mancher Hinsicht sind sie sogar nach hinten losgegangen, da sie zu einer „Medikalisierung“ der Praktik geführt haben, bei der Eltern Gesundheitsdienstleister dafür bezahlen, FGM an ihren Töchtern in einer sterilen Umgebung durchzuführen. Tatsächlich kann FGM selbst unter solchen Bedingungen zu schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen führen und verstößt darüber hinaus gegen das Recht von Frauen und Mädchen auf Nichtdiskriminierung und Freiheit von grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (UNFPA, 2018). Dies hat Organisationen wie UNFPA, die sich für die Abschaffung von FGM einsetzen, dazu veranlasst, alternative Ansätze zu erforschen, die in einem ersten Schritt versuchen, die Gründe zu verstehen, warum Familien diese schädliche Tradition fortsetzen,. 

Der Generationendialog und die „3R“ der feministischen Entwicklungspolitik

Der Generationendialog stößt in den Gemeinden Diskussionen über die Gründe für schädliche Praktiken und deren Auswirkungen auf das Wohlergehen von Frauen und Mädchen an und unterstützt die Gemeindemitglieder bei der Planung von Schritten zur Überwindung solcher Praktiken. Dabei stellt er sicher, dass die Ansichten und Erfahrungen von Frauen und Mädchen in den Diskussionen und Planungen der Gemeinschaft vertreten sind, und unterstützt Frauen und Mädchen bei der Verwirklichung ihrer Menschenrechte und bei der Formulierung und Erlangung der dafür notwendigen psychologischen und materiellen Ressourcen.

„Ich dachte mir, dass der Generationendialog in Ägypten gut funktionieren könnte“, erinnert sich May El Sallab, Analystin für das FGM-Programm bei UNFPA. „Mir gefällt an diesem Ansatz, dass er die Komplexität von FGM anerkennt und die Tradition nicht einfach nur verurteilt.“

Mit ihrem Fokus auf dem Dialog zwischen den Generationen spricht die Methode sowohl jüngere als auch ältere Menschen an. May El Sallab hält es für sehr wichtig, auch Schwiegermütter und Großmütter zu erreichen: 

Meiner Erfahrung nach gibt es bei Schwiegermüttern und Großmüttern den größten Widerstand gegen die Abschaffung von FGM. Ich dachte mir deshalb, dass der Generationendialog die richtige Art ist, dies anzugehen.

May El Sallab

Ein Jahr, sechs Gemeinden, mehr als 3000 Menschen im Dialog über FGM

In den Jahren 2020 und 2021 unterstützte der UNFPA Ägypten drei seiner Partnerorganisationen – CARE Ägypten, Etijah und Y-Peer – bei der Umsetzung des Generationendialogs in fünf Gouvernements in Oberägypten. Jeder der Partner unterstützte eine gemeindebasierte Organisation aus seinem Netzwerk dabei, die sieben Schritte des Generationendialogs in einer oder mehreren der Gemeinden durchzuführen, in denen sie bereits an Projekten zur Bekämpfung von FGM arbeiteten.

Die Methodik des Dialogs ist komplex und es gab anfangs viel zu lernen“, sagt Amira Hussein, eine FGM-Forscherin und Aktivistin, die den gesamten Prozess in Ägypten im Auftrag von UNFPA leitete und dabei von Anna von Roenne, einer von der GIZ beauftragten Dialogexpertin, fachlich unterstützt wurde.

Die Koordinatoren hatten so viele Fragen! Und sie waren skeptisch, als sie erfuhren, dass sie nicht eingreifen sollten, um Überzeugungen oder Haltungen zu „korrigieren“, die sie für falsch hielten. Wir mussten einen Vertrauensvorschuss leisten und dem Prozess vertrauen. Aber von Anfang an hat es funktioniert.

Amira Hussein

Im Gegensatz zu herkömmlichen Sensibilisierungsveranstaltungen, bei denen Außenstehende Aufklärungsveranstaltungen für Gemeinden organisieren, geschieht der Generationendialog in der Gemeinde selbst, angeleitet und umgesetzt von Facilitator*innen und ‚Dialog-Champions‘, die selbst zur Gemeinde gehören. 

„Die Methode zwingt uns, wirklich aufmerksam zu sein, den Menschen in den Gemeinden genau zuzuhören und von ihnen zu lernen“, so Amira Hussein. Das war zwar nicht immer einfach, aber ich habe jede Minute dieser Erfahrung genossen.“

Public Meeting
Die Männer tragen öffentlich vor, zu welchen Verhaltensänderungen sie sich verpflichten.

In den sechs teilnehmenden Gemeinden nahmen mehr als 1 000 Menschen an den so genannten Community Consultations teil – halbstrukturierte Diskussionen, in denen jüngere und ältere Frauen und Männer in vier getrennten Gruppen über ihre Überzeugungen und Werte sowie über ihre Beziehungen zur anderen Generation reflektierten. Anschließend nahm in jeder Gemeinde eine Kerngruppe von 48 jüngeren und älteren Frauen und Männern an sechs moderierten Dialogsitzungen teil, zunächst in geschlechtsspezifischen Gruppen und dann gemeinsam. Mehr als 2 000 Menschen nahmen im Anschluss an Mini-Dialogen teil – informellen Gesprächen in der Gemeinde, in denen über die Selbstverpflichtungen, die sich aus dem Dialogprozesses ergeben hatten, gesprochen wurde.

Es kann bis zu einem Jahr dauern, einen vollständigen Zyklus des Generationendialogs durchzuführen – eine erhebliche Verpflichtung. Bemerkenswert ist, dass alle sechs Gemeinden den gesamten Prozess abgeschlossen haben und alle sechs „48er-Gruppen“ bis zum Schluss intakt und aktiv geblieben sind. In einigen der Gemeinden sind dieser 48 weiter als ehrenamtliche Moderator*innen von Aktivitäten tätig, die die gemeindebasierten Organisationen organisieren. 

Veränderte Rollen und ein neues Sinngefühl 

In der Gemeinde Beni Ebied im Gouvernement Minya hat der Generationendialog die Erwartungen von allen übertroffen. Hanaa Beshara, die ihn koordiniert hat, ist tief beeindruckt, welche Veränderungen er in der Gemeinschaft, die sie seit vielen Jahren kennt, ausgelöst hat: 

Ich hätte nie gedacht, dass ich es einmal erleben würde, dass junge Frauen auf einer öffentlichen Versammlung aufstehen und offen und selbstbewusst zu den Gemeindeältesten sprechen.

Hanaa Beshara

Auch den älteren Frauen und Männern hat er neue Rollen und ein neues Sinngefühl gegeben. So bat eine der älteren Frauen Hanaa gegen Ende des Dialogzyklus um Hilfe bei der Anmeldung zu einem Alphabetisierungskurs. Hanaa Beshara erklärt: „Es war ihr einfach sehr wichtig, dass all die Dinge, die während des Generationendialogs ausgesprochen wurden, aufgeschrieben und weitergegeben werden. Als Analphabetin konnte sie dazu nichts beitragen. Deshalb wollte sie jetzt unbedingt lesen und schreiben lernen.“ 

Auf der letzten öffentlichen Veranstaltung in Beni Ebied stand ein älterer Mann auf und sagte, dass er, als er in den Ruhestand ging, das Gefühl gehabt habe, sein Leben sei zu Ende. Nun habe ihm der Generationendialog wieder „eine Rolle in der Gemeinschaft und ein neues Leben“ gegeben.

Religiöse Führer beteiligen sich am Generationendialog auf und werden zu ‚agents of change

Die religiösen Führer wurden im Laufe des Prozesses zunehmend in den Dialog in Beni Ebied einbezogen. Hanaa Beshara erklärt, dass ihr Engagement von den ersten Konsultationen bis zu den öffentlichen Sitzungen und den abschließenden Konsultationen deutlich anstieg. „Es wird oft angenommen, dass religiöse Führer für FGM sind, aber das ist nicht der Fall“, erklärt sie. Wichtige religiöse Institutionen arbeiten mit der Regierung daran, bekannt zu machen, dass FGM keine religiöse Grundlage hat. 

Die Generationendialog-Sitzungen schufen einen völlig neuen Raum, in dem religiöse Führer und Gemeindemitglieder gleichberechtigt interagieren konnten:

Wenn ein religiöses Oberhaupt auf der öffentlichen Versammlung am Ende eines Generationendialogs sprach oder eine Meinung äußerte, hatte dies natürlich ein größeres Gewicht. Wichtig war jedoch, dass sie sich vorher respektvoll die Sichtweisen aller teilnehmenden Gemeindemitglieder angehört hatten – also Mann und Frau, Jung und Alt.

Hanaa Beshara

Dialogische Ansätze können die Reflexion über viele sensible Themen ermöglichen

Der Generationendialog ist gut geeignet, um sensible Themen wie FGM anzusprechen, weil er die Gemeindemitglieder sanft dazu anleitet, über die Gründe zu sprechen, warum so viele von ihnen eine Praxis unterstützen, von der sie wissen, dass sie schädlich ist. Der Dialogprozess ist geschlechtertransformativ, da er es den Teilnehmenden ermöglicht, die Geschlechternormen, die FGM zugrunde liegen, kritisch zu reflektieren und zu hinterfragen, ebenso wie andere Einstellungen und Praktiken, die anhaltende Geschlechterungleichheiten widerspiegeln. 

A role play exercise during Women’s Dialogue sessions
Ein Rollenspiel in einer der Dialog-Sitzungen.

In vielen ägyptischen Gemeinden eröffnete der Dialog offene Diskussionen über die „Heiratsfähigkeit“ junger Frauen und die tiefe Angst der Familien, dass ihre Töchter in den Haushalt ihres Vaters zurückgeschickt werden könnten, wenn bekannt wird, dass sie nicht beschnitten sind. Für Hanaa Beshara berühren diese Gespräche den „Kern“ des Problems und sind ein sehr willkommenes Ergebnis. 

Im Nachhinein denkt sie, dass der Hauptnutzen des Generationendialogs nicht in dem spezifischen Thema liegt, das er anspricht, sondern in seiner Kraft, die Kommunikation innerhalb von Familien und Gemeinschaften zu verbessern: 

Wir haben bei den Gemeinschaftskonsultationen gehört, dass der Dialog in vielen Familien mangelhaft ist. Ich sehe jetzt, dass wir über alles reden können, wenn der Dialog gut ist.

Hanaa Beshara

UNFPA Ägypten weitet den Ansatz landesweit aus

UNFPA Ägypten betrachtet die erste Durchführungsrunde als Erfolg. Das Feedback war sehr positiv, vor allem von den Koordinator*innen und Moderator‘innen“, sagt May El Sallab. Es war das erste Mal, dass sie mit einem „positiven Ansatz“ zu FGM gearbeitet haben. Sie haben gesehen, dass dies zu weniger Widerstand führt.  

Auf der Grundlage dieser Erfahrungen beabsichtigt UNFPA Ägypten, den Generationendialog landesweit auszuweiten. Außerdem ist geplant, den Ansatz dem Nationalen Frauenrat vorzustellen, damit dieser die Methode in seine eigenen FGM-Programme integrieren kann.

Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit leistet weiterhin gezielte Hilfe, um die effektive Umsetzung des Generationendialogs zu ermöglichen. In Ägypten wurde die Methode zum ersten Mal vollständig von lokalen Organisationen umgesetzt. Dabei kam das von der GIZ entwickelte Online-Toolkit zum Einsatz, das Organisationen, die den Ansatz umsetzen wollen, Schritt für Schritt anleitet. 

Die Unterstützung des Generationendialogs in Ägypten steht im Einklang mit der Verpflichtung der deutschen Feministischen Entwicklungspolitik, die Beteiligung lokaler zivilgesellschaftlicher Organisationen, insbesondere der feministischen Zivilgesellschaft, zu fördern. Sie wird auch ihrem postkolonialen Anspruch gerecht, einen respektvollen und kontextspezifischen Dialog zu fördern, statt mit andernorts entwickelten Lösungen aufzuwarten.

Karen Birdsall & Anna von Roenne
Juni 2023

© Jesuit Development Association
© Jesuit Development Association
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