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Luthfi Azizatunnisa in her wheelchair

Gesundheitssysteme für eine Milliarde Menschen mit Behinderungen neu denken

Der neue Bericht Missing Billion macht auf die mangelhafte Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderungen aufmerksam und skizziert einen Aktionsplan, der sicherstellen soll, dass sie zukünftig „erwartet, akzeptiert und eingebunden“ werden. 

„Ein Motorradunfall vor 11 Jahren hat dazu geführt, dass ich als Tetraplegikerin auf einen manuellen Rollstuhl angewiesen bin“, sagt Luthfi Azizatunnisa, Dozentin für öffentliche Gesundheit und Krankenpflege in Indonesien, die derzeit an der London School of Hygiene and Tropical Medicine zum Thema Sozialschutz für Menschen mit Behinderungen promoviert. In Indonesien hatte Luthfi Azizatunnisa nach eigenen Angaben finanzielle, praktische und physische Probleme beim Zugang zu Gesundheitsdiensten und den von ihr benötigten medizintechnischen Hilfsmitteln. 

Die Stigmatisierung ist immer noch stark. Das Problem ist, dass viele Menschen mit Behinderungen gar nicht gesehen werden. Sie sind oft nicht in der Lage oder zögern, Gesundheitsdienste aufzusuchen, und die Gesundheitsdienste kommen nicht zu ihnen.

Luthfi Azizatunnisa

Ein aufschlussreicher Bericht – und ein Podcast

Ein wichtiger neuer Bericht, Reimagining Health Systems that expect, accept and connect one billion people with disabilities, macht auf die nicht gedeckten Gesundheitsbedürfnisse von Menschen aufmerksam, die, wie Luthfi, mit Behinderungen leben. Der Bericht wurde gemeinsam von der Initiative „Missing Billion“ mit Unterstützung der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) im Auftrag des deutschen Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) über das Globale Projekt zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen (mit weiteren Beiträgen des britischen Foreign, Commonwealth & Development Office) veröffentlicht. Die neueste Ausgabe des Healthy DEvelopments-Podcast fasst zentrale Ergebnisse des Berichts zusammen und lässt die Autorinnen sowie einige der Menschen mit Behinderungen zu Wort kommen, die an dem Bericht mitgewirkt haben:

Podcast

Gesundheitssysteme für eine Milliarde Menschen mit Behinderungen neu denken

Zahlreiche Hindernisse erschweren Menschen mit Behinderungen den Zugang zu ihrer Gesundheitsversorgung

Der neue Bericht dokumentiert die Hindernisse, denen sich Menschen mit Behinderungen beim Zugang zur Gesundheitsversorgung gegenübersehen. Dazu gehören negative Einstellungen und Stigmatisierung, ein Mangel an erschwinglichen und zugänglichen Dienstleistungen sowie logistische Schwierigkeiten. Menschen mit Behinderungen erhalten häufig die Leistungen nicht dann, wenn sie sie brauchen. Und selbst wenn sie eine Gesundheitsversorgung erhalten, ist die Qualität der Versorgung schlechter, als bei Menschen ohne Behinderungen, was entsprechend schlechtere Behandlungsergebnisse zur Folge hat. 

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Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass diese Hindernisse auf systemische Probleme im Gesundheitswesen zurückzuführen sind. Es gibt weltweit nur unzureichende Strategien oder Gesetze zum Schutz des Rechts auf integrative Gesundheitsversorgung für Menschen mit Behinderungen, und wo es sie gibt, werden sie oft nicht umgesetzt. Allzu oft verfügt das Gesundheitspersonal nicht über die entsprechenden Fähigkeiten oder Kenntnisse, um den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen gerecht zu werden.  

Die drei Kernaussagen des Berichts

Professor Hannah Kuper
Professor Hannah Kuper

Professor Hannah Kuper von der London School of Hygiene and Tropical Medicine ist eine der Autorinnen des Berichts. Sie sagt, er enthalte drei Schlüsselbotschaften: Die erste ist die schockierende Erkenntnis, dass Menschen mit Behinderungen eine 10 bis 20 Jahre kürzere Lebenserwartung haben. Zweitens gaben die befragten Menschen mit Behinderungen an, sie wünschten sich Gesundheitssysteme, die sie „erwarten, akzeptieren und einbinden“ – mit anderen Worten, Gesundheitssysteme, die wissen, welche Leistungen Menschen mit Behinderungen von ihnen brauchen, und die sie so ganzheitlich betreuen, wie es nötig ist. Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass die nötigen Anpassungen, um den Rechten und Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen Rechnung zu tragen, nicht nur eine angemessene Finanzierung erfordern, sondern eine umfassende Neugestaltung der bestehenden Gesundheitssysteme, sowohl in Ländern mit hohem als auch mit niedrigem Einkommen.

Unterschiedliche Behinderungen erfordern ganz unterschiedliche Angebote

Der Begriff Behinderung umfasst eine große Bandbreite an körperlichen und geistigen, angeborenen und unfall- oder krankheitsbedingten Behinderungen und ihre Folgen unterscheiden sich zwischen den Geschlechtern, Altersgruppen und Weltregionen. Dennoch, so Professor Kuper, haben sie alle etwas gemeinsam:

Ein Kind mit Downsyndrom in Brasilien und ein älterer Erwachsener mit Demenz in England haben natürlich komplett unterschiedliche Bedürfnisse. Unseren Erkenntnissen zufolge scheinen jedoch die Schwierigkeiten, die sie beim Zugang zu ihrer Gesundheitsversorgung erleben, ziemlich ähnlich zu sein.

Professor Hannah Kuper

COVID schärfte das Bewusstsein für Diskriminierung und Ungleichheiten

Seit der Veröffentlichung des ersten Berichts im Jahr 2019 hat die weltweite COVID19-Pandemie diese Ungleichheiten noch deutlicher gemacht, sagt Hannah Kuper.

Unsere systematische Studie ergab, dass Menschen mit Behinderungen ein etwa zweieinhalbmal höheres Risiko haben, an COVID zu sterben. Und bei bestimmten Personengruppen ist die Wahrscheinlichkeit, an COVID zu sterben, noch viel größer – bei Menschen mit Downsyndrom beispielsweise ist sie im Vergleich zur Gesamtbevölkerung 20- bis 25-mal höher.

Professor Hannah Kuper

„Im Vereinigten Königreich, wo 16 % der Bevölkerung mit Behinderungen leben, betrafen 59 % der COVID-Todesfälle Menschen mit Behinderungen. Dies zeigt sehr deutlich die Diskriminierung und die Ungleichheit, mit denen diese konfrontiert sind „, sagt Professor Kuper. So waren z.B. 10 % der Menschen, die mit COVID auf Intensivstationen eingeliefert wurden, auch an Demenz erkrankt. Wie war die Qualität der Pflege für diese Menschen? Konnte ihnen jemand erklären, was passiert, bevor sie intubiert wurden? Wie ist dies ethisch zu beurteilen?

Es gibt nicht genügend Online-Informationen für Menschen mit Behinderungen

Ein weiteres Problem sei der Mangel an zugänglicher Information, sagt die kanadische Gesundheitsforscherin Sara Rotenburg. Sie war kürzlich an einer Studie beteiligt, die auf Impf- und Test-Websites prüfte, welche Informationen dort für Menschen mit Behinderungen verfügbar sind. Die Studie machte deutlich, dass hier ein großer Mangel herrscht:

Wir haben Menschen, die nicht geimpft sind, oft als Impfgegner abgestempelt, ohne zu erkennen, dass es vielleicht eine Menge anderer Hindernisse gibt, die sie davon abhalten, sich impfen zu lassen. So zum Beispiel, wenn es auf Websites keine Informationen darüber gibt, wie man als Mensch mit Behinderung einen Termin bucht oder wie man an den Impfort kommt. Menschen mit Behinderungen müssen vielleicht zu Hause geimpft werden, was zu längeren Wartezeiten führen kann und komplizierter zu realisieren ist.

Sara Rotenberg

Als sich beispielsweise in Indonesien zeigte, dass Menschen mit Behinderungen unverhältnismäßig stärker von COVID-Erkrankungen betroffen waren und in größerer Zahl starben als Menschen ohne Behinderungen, bemühte sich die Regierung, ihre Impfpolitik integrativer zu gestalten, sagt Luthfi Azizatunnisa. Es gab eine Massenkampagne, in der Impfungen für Behinderte und ihre Betreuer*innen Vorrang hatten, und es wurden barrierefreie Transportmittel für sie bereitgestellt. Die Pandemie öffnete den Menschen in Indonesien die Augen dafür, wie eine ntegrative Gesundheitsfürsorge für Menschen mit Behinderungen aussehen könnte.

Indonesian COVID vaccination poster targeting people with disabilities
Indonesisches COVID-Impfplakat für Menschen mit Behinderungen

Eine bessere Ausbildung des Gesundheitspersonals könnte etwas bewirken

Trotz der Lehren, die aus der Pandemie gezogen wurden, muss noch viel mehr getan werden, sagt Sara Rotenberg, die selbst mit einer komplexen Lernbehinderung lebt. Ihre Doktorarbeit an der Universität Oxford, in der sie untersucht, inwieweit das Gesundheitspersonal in Bezug auf Behinderungen geschult wird, hat große Leerstellen bezüglich dieser Schulungen aufgezeigt.

In den USA wurden in jüngster Zeit einige Studien durchgeführt, die sich mit der Einstellung des Gesundheitspersonal gegenüber Menschen mit Behinderungen befassten. Die Ergebnisse waren schockierend. Viele Mitarbeiter des Gesundheitswesens fühlen sich nicht darauf vorbereitet, sie zu behandeln, und einige gaben sogar zu, dass sie Menschen mit Behinderungen nicht behandeln wollen.

Sara Rotenberg

Sie ist überzeugt, dass der neue Bericht viel dazu beitragen wird, auf Behindertenfeindlichkeit in Gesundheitssystemen aufmerksam zu machen und sie zu reduzieren, insbesondere durch eine bessere Schulung des Gesundheitspersonals im Umgang mit Menschen mit Behinderungen. Derzeit, sagt sie, ist eine solche Ausbildung noch unsystematisch und unzureichend. In der Zukunft sollte sie fest in die Lehrpläne für Gesundheitsberufe aufgenommen werden. 

Sara Rotenburg
Sara Rotenberg

Ein Kompendium bewährter Methoden zeigt, wie es gehen kann

Der Bericht zeigt nicht nur die Probleme auf, mit denen viele Menschen mit Behinderungen in Gesundheitssystemen konfrontiert sind, sondern thematisiert auch praktische Lösungen. Ein Kompendium bewährter Praktiken stützt sich auf Beispiele aus Südafrika und Irland, wo Behinderte in den Gesundheitsministerien selbst auf hoher Ebene vertreten sind, oder aus dem Vereinigten Königreich, wo ein evidenzbasiertes Register für Lernbehinderungen eingerichtet wurde, um Ungleichheiten in der Behandlung der betroffenen Menschen zu beseitigen. In Indien hat wirksame Lobbyarbeit dazu geführt, dass nun alle 500 medizinischen Fakultäten eine obligatorische Schulung zum Thema Behinderung anbieten, und in Brasilien führte eine Prüfung der Zugänglichkeit von mehr als 30 000 Einrichtungen der medizinischen Grundversorgung dazu, dass die Auszahlung von Mitteln an diese davon abhängig gemacht wurde, dass sie ihre Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen sicherstellen. 

Diese Beispiele erfolgreicher Maßnahmen in verschiedenen Ländern sind die große Stärke des Berichts:

Der Bericht ist außerordentlich praktisch. Er formuliert einen Fahrplan mit klaren Zielen und stellt politischen Entscheidungsträger*innen erfolgreiche Beispiele wirksamer Maßnahmen zur Verfügung.

Sara Rotenberg

Wer ist verantwortlich?

Es gibt eine Dreiecksbeziehung zwischen bedürftigen Menschen mit Behinderungen, den Anbieter*innen von Gesundheitsdiensten und den Regierungen, die diese finanzieren müssen. Wer ist also nach Ansicht von Professor Hannah Kuper verantwortlich für einen besseren Zugang zur Gesundheitsversorgung? Alle drei, sagt sie: Die Milliarde Menschen, die mit Behinderungen leben, sind eine enorme und potenziell mächtige Interessengruppe; das Gesundheitspersonal ist ebenfalls ein wesentlicher Teil der Gleichung, da es die nötigen Dienstleistungen erbringen muss; die Regierungen müssen ihrerseits die nötigen Mittel bereitstellen und eine gute Politik umsetzen.  Sollten sie, angeregt von dem neuen Bericht, stärker in die angemessene Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderungen investieren, wäre dies ein sehr gutes Ergebnis.

Components of inclusive health services
Komponenten integrativer Gesundheitsdienste. Eine Graphik aus dem Missing Billion-Bericht.

Inklusion ist wichtig – für alle

In einer Welt, die Pandemien, Klimawandelfolgen und in vielen Gesellschaften eine Alterung der Bevölkerung erlebt, muss sichergestellt werden, dass die Gesundheitsdienste für Menschen mit Behinderungen zugänglicher und integrativer werden, sagt Sara Rotenberg. Fünfzehn Prozent der Bevölkerung sind kein Nischenanteil. Wenn die aktuell ‚fehlende Milliarde‘ von Gesundheitsdiensten nicht, wie vom Bericht gefordert, erwartet, akzeptiert und eingebunden wird, wird die internationale Gemeinschaft ihre nachhaltige Entwicklungsziele für alle verfehlen.

Ruth Evans,
November 2022 

© Hannah Kuper
© Sara Rotenburg
© The Missing Billion Initiative and Clinton Health Access Initiative
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